Die Verfilmung „Wer die Nachtigall stört“ („To Kill A Mockingbird“) konnte bei ihrer Premiere im Jahr 1962 auf beträchtlichen Rückenwind hoffen: der Ursprungsroman von Harper Lee hatte alle relevanten Literaturpreise abgeräumt und sich aus dem Stand (zumindest in den USA) den Status eines Klassikers gesichert. Für die Hauptrolle des Atticus Finch hatte der Produzent Alan J. Pakula Gregory Peck gewonnen, und auf dem Regiestuhl sollte Robert Patrick Mulligan Platz nehmen, mit dem Pakula bereits mehrfach zusammengearbeitet hatte. Die Buchautorin Lee besuchte die Dreharbeiten, reiste aber vorzeitig ab, weil sie den Eindruck bekam, ihre Anwesenheit sei nicht notwendig. Der Film spielte das Zehnfache seiner Kosten ein und gewann drei Oscars.
In den USA ist die väterliche Hauptfigur und Vater der Erzählerin Mary Louise „Scout“ Finch eine Art Archetyp für die Qualität Empathie. Dafür spricht nicht nur sein Verhalten im zentralen Plotkonflikt, als er die Verteidigung des der Vergewaltigung angeklagten Paul Robinson übernimmt, sondern insbesondere sein Verhalten gegenüber seinen Kindern Scout und Jem.
Gleich zu Beginn des Films bringt ein armer Farmer, Mr. Cunningham, der Familie Finch einen Sack Walnüsse.
(aus: „Wer die Nachtigall stört“, UP 1962)
Nun ist es relativ „dankbar“, das Verhältnis zwischen Vater und Tochter einerseits und eine komplexe empathische Situation andererseits im Film zu erklären, indem ein naiv-neugieriges Kind direkte Fragen stellt, die der Vater geduldig beantwortet. Man hat aber als Drehbuchautor so nicht nur die bequeme Gelegenheit, etwas Exposition über Charaktere, Handlung und Konflikte unterzubringen — sondern gleichzeitig die Herausforderung, die Szene nicht vom gewünschten Ende her, sondern Schritt für Schritt authentisch zu erzählen.
Im Skript liest sich die Szene so:
Drehbuchszene |
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WALTER CUNNINGHAM, a thin, raw-boned farmer in his late fifties, comes into view. He is carrying a crocker sack full of hickory nuts. He passes under the oak tree at the side of the house as a young girl, six, dressed in blue jeans, drops from one of its branches to the ground. She brushes herself off and goes toward Mr. Cunningham. SCOUT CUNNINGHAM SCOUT WALTER CUNNINGHAM seems ill at ease and embarrassed. ATTICUS, Scout’s father, comes OUT of the kitchen door. SCOUT ATTICUS CUNNINGHAM ATTICUS Atticus picks up the sack. These are hickory nuts. ATTICUS Mr. Cunningham mutters something and starts on. ATTICUS SCOUT The ANGLE WIDENS as Atticus starts for the front yard to get the morning paper, Scout after him. ATTICUS SCOUT ATTICUS SCOUT ATTICUS SCOUT Atticus picks up the paper and opens it. ATTICUS SCOUT ATTICUS SCOUT ATTICUS |
Wo ist der Moment der Empathie?
- Mr. Cunningham will kein Aufsehen erregen, als er mit dem Sack Nüsse auf das Haus der Finchs zugeht. Seine Haltung ist deferent; er nennt Scout „Miss“ als eine gesellschaftlich höherstehende Person. Als Scout anbietet, ihren Vater zu holen, wehrt Cunningham ab, er „wolle nicht stören“. Soweit, so wahrheitsgemäß. Als Finch auf die Veranda tritt, geht er mit keinem Wort auf die Tatsache ein, dass Cunningham Schulden abbezahlt; dennoch ist dieses Thema zwischen ihnen (rückblickend) permanent präsent. Das Lob Finchs lässt Cunningham unkommentiert. Warum? Es ist ihm unangenehm, seine Verbindlichkeiten nicht mit Geld begleichen zu können; deswegen geht er auch sofort und fast unhöflich wieder.
- Atticus Finch verhält sich vollendet höflich. Beide sind sich des sozialen Unterschieds zwischen Finch und Cunningham bewusst, der sich weniger in Kleidung und finanziellen Ressourcen, sondern in erster Linie im unterschiedlichen Bildungsstand der beiden zeigt. Der Moment der Empathie zeigt sich in den Leerstellen: es gibt keine Spur eines Versuchs, den eigenen Status als Gläubiger zu betonen; auch kann man den Eindruck gewinnen, als handle es sich bei dem Sack Nüsse um ein Geschenk, nicht um die Tilgung einer Schuld. Seiner Tochter Scout gibt er einen tieferen Einblick in die Handlungsmotive von Mr. Cunningham und bringt ihr etwas über die Qualität Würde bei.
Identifizieren Sie Zeitpunkte bzw. Szenen in Ihrem Drehbuch, die Sie zu einer empathischen Begegnungsszene zwischen ihren Hauptfiguren ausarbeiten können.
Und wenn Sie hängenbleiben …