Gebrochene Dächer geben den Blick frei

Sie kennen ein wenig Joseph Campbell?

Heldenreise undsoweiter?

Wenn nein, dann beneide ich Sie. Das heißt nämlich, dass Sie die Entdeckungen noch vor sich haben. Allerdings eine Warnung vorab: Wie immer, wenn es sich um Erkenntnis dreht — und nicht bloß Wissen — dann sind Entdeckungen süß und bitter zugleich. Jedes „Ahhhh“ zieht ein „Ohhh, das dann auch“ nach sich.

Wo könnten Sie anfangen, wenn es Sie interessiert?

Mit einem interessanten Video vielleicht?

Campbell sagte einmal, seit er Mythologien erforsche, sähe er sie überall. „Die nächste Inkarnation der Schönen und dem Tier, die nächste Verkörperung der Tragödie des Ödipus wartet gerade jetzt an der Ampel 2nd Avenue Ecke Broadway“ (so sinngemäß). Geht es mir ähnlich?

Ja. Aber ich lese auch Zeitungsartikel und spüre mythologische Resonanzen.

In Russland sollen inzwischen 120.000 Soldaten in Särgen heimgekehrt sein. Irgendwo gibt es Familie zu diesen Soldaten: Mütter, Väter, Geschwister. Man hört nichts von ihnen, jedenfalls hier im Westen. Ein Kind zu verlieren ist einer der härteten psychologischen Schläge, die eine Seele (hoffentlich nie) verkraften muss. Die Schockwellen reichen tief und schneiden tiefe Narben. Niemand bleibt davon ungezeichnet.

Trauer, Wut, Unverständnis sind nur drei der „normalsten“ Reaktionen darauf. Aber wie äußern die sich hier?

  • Passiert da nichts in den Wohnungen all dieser Familien?
  • Reicht der Bullshit-Narrativ aus („Brudervolk der Ukraine“, „Nazis in Kiew“, „Imperialistische Verschwörung gegen Mütterchen Russland“), um dem Sterben einen Sinn zu geben?
  • Reicht die Dominanz der russischen Autokratie verbunden mit der sagenumwitterten Leidensfähigkeit der Russen aus, um diesen immensen Blutzoll verdaulich zu machen?
  • Genügt es, sich in einer wachsenden Gemeinschaft zu wissen, die Kinder verloren haben, um „einfach so“ weiter zu machen? Ist die logische Konsequenz dann, dass die tobende Trauer der überlebenden Angehörigen sich nach innen lenkt, und ihre zerstörerische Kraft dann in ein paar Jahren schön verdeckt und ohne nachvollziehbare Kausalkette sich durch Ableben als Krebs oder Demenz Bahn schafft? „Keine Ahnung, warum Mascha gestorben ist, die war doch eigentlich immer gesund gewesen?“

Meine Erklärungen reichen nicht aus.

Ich weiß zu wenig über das Denken und Fühlen russischer Familienstrukturen. Die tatsächlichen Nazis (also: die deutsche Variante aus dem 20. Jh.) wussten, wie sie Familien in Deutschland dazu brachten, „ihre Söhne herzugeben“. Und, wie sie die Soldaten dazu brachten, todesbereit zu werden oder zu bleiben. Ich gehe davon aus, dass russische Propagandisten ebenso wissen, auf welchen Klavieren sie spielen müssen, damit so etwas in Russland funktioniert.


Das Werkzeug Mythologie kann missbraucht werden und wird es auch. Es lässt sich kurzfristig für parteiische Zwecke einsetzen (vgl. natürlich der dt. Nationalsozialismus und die sowjetische Staatspropaganda), aber die Folgen sind umso gravierender.

Ein Beispiel: Ein Volk wie das der Deutschen, das es zugelassen hat, das sich ein Grauen wie der Holocaust entfalten konnte, trägt eine tiefe Schuld. Es ist gut beraten, z.B. im Umgang mit dem betroffenen Volk Israel in Zukunft sehr vorsichtig vorzugehen. Das sehen wir gerade sehr deutlich am Israel-Gaza-Konflikt. Der reflexartige Impuls der Bundesregierung ist sogar, sich weitgehend aus allem herauszuhalten, weil (Zitat) die Staatsräson Deutschlands mit der Israels verknüpft sei.

Das mag ehrenhaft klingen, ist aber eine mythologisch traumatisierte Reaktion. Sie zeigt, wie weit, wie lang und wie tief mythologischer Missbrauch wirkt. Eine mythologisch verarbeitete Reaktion würde die eigene Verantwortung als Deutsche darin sehen, dafür einzutreten, dass Verfolgung aufgrund von ethnischer resp. religiöser Zugehörigkeit NIRGENDWO mehr vorkommt. Nicht gegen Angehörige des Volkes Israel, aber auch nicht gegen Palästinenser. Oder gegen Tutsi. Oder gegen Bahá’í. Undsoweiter. Wer hier Einschränkungen zulässt, hat die Lektion nicht gelernt oder will sie nicht lernen.

Es gibt aus der Mythologie für die Moderne eigentlich nur eine Erkenntnis: wir Menschen auf dem Raumschiff Erde sitzen alle in einem Boot. Individuelle Vorteile einzelner Gruppen und/oder Staaten können inzwischen nur noch kurzlebig sein. Dafür sind die Ressourcen zu knapp. Das mythologische Auge schärft den Sinn für diese Zusammenhänge: wir haben alle die gleichen Geschichten — wir haben alle die gleichen Grundfragen des Lebens.

Die Welt mit dem mythologischen Auge sehen zu wollen bedeutet erst einmal, Zeit zum Lesen zu brauchen. In der Zeit nach meiner ersten Ehe hatte ich damit begonnen. Das Lesen von Campbells Vorträgen hat mich zu so unterschiedlichen Zielen wie Schopenhauer, Nietzsche, Jung, Spengler und Meister Eckart geführt. Und ich habe erst das Gefühl, begonnen zu haben. Aber das ist das Schöne daran, sich wie ein Schüler zu fühlen.

Wie hilft mir das mythologische Auge nun dabei, wenn es sich bemerkbar macht, wie im Beispiel oben beschrieben? Ist die Welt dann klarer, einfacher, logischer?

Erst einmal nein. Einfach deswegen, weil jede Antwort durch das mythologische Auge eine neue Frage aufwirft. Es sei jeder Interessierten vergeben, wenn sie sich nach einer Weile derartig hinterlistiger Fragenbeantwortung enttäuscht von der Perspektive der Mythologie abwendet. Zu wenig Return On Investment. Aber es gibt eine geheime Gemeinschaft Verschworener, die sich genau daran erkennen, an der unerbittlichen Neugierde des Wassermanns, wenn es um Fragen der Erkenntnis geht. Wenn sie sich begegnen und erkennen, geschieht etwas. Und das ist all das andere dann irgendwie wert gewesen. Ohne das eine wird das andere nicht kommen.

Lassen Sie es zu, dass man sie an Ihren Fragen erkennt.

Gebt es weiter -- das Beste im Netz!