Storyboard (C) M. Vogt 2015

Sie haben ein Serienkonzept und wollen es in Deutschland an den Mann bzw. an die Frau bringen — d.h. jemand soll Geld in die Hand nehmen, damit aus Ihrer Geschichte eine Serie wird? Seien Sie vorsichtig …l

Das, was ich zur gleichen Frage in Bezug auf Film geschrieben habe, gilt z.T. auch für die Serie, insbes. das Vitamin B. Es gibt aber eine entscheidende Einschränkung, nämlich bei Frage 3. Ich zitiere daraus:

Haben Sie einen Stoff, dessen Thema nicht nur Ihrer Meinung zufolge gerade „in der Luft“ liegt, d.h. dessen Kernthema innerhalb der letzten Wochen die Gesellschaft bewegt hat (Zeitung, TV)?

Dieser Aspekt gilt beim Thema Serie in Deutschland nur insofern, als das erzählerische Urteil über dieses „hat die Gesellschaft bewegt“ sich innerhalb der Political Correctness und im Rahmen des Sozial Erwünschten bewegen muss, damit der Stoff eine Chance hat.

Reizworte sind hier beispielsweise

  • Frauenbild (grundsätzlich als „empowered“ zu zeigen — oder auf dem Weg dahin)
  • Männerbild (grundsätzlich zu hinterfragen, oder nicht hinterfragt zu postulieren, oder in Richtung Homosexualität auszuweichen und dabei kein Klischee auszulassen)
  • Alter und Tod (eigentlich immer überzuckert)
  • Sicht auf Ausländer — allgemein (als vermeintliche Gruppe) und spezifisch (als Individuen)
  • „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht“ (dazu gleich mehr)

Das hat bei den öffentlich-rechtlichen Sendern auch, aber nicht nur mit dem Bildungsauftrag zu tun. Bei anderen Auftraggebern (Privatsender und Streamingdienste) ist es die vermeintliche Wahrnehmung dessen, was dem Zuschauer in Deutschland zugemutet werden darf.

Wo liegt das Problem?

Zum Erzählen packender Geschichten gehört eine Kombination von vertrauten Elementen einerseits und Unerwartetem andererseits. Ohne das Erste springen die Zuschauer vielleicht ab, weil ihnen die Identifikationsmöglichkeiten fehlen, ohne das Zweite ist es sehr schwer, spannende Geschichten zu erzählen. Jeder, der sich heute eine Episode einer Krimiserie aus den 60ern anschaut, weiß, wie sich Erwartungen, Erzähltempo und die Erfahrung des Zuschauers entwickelt haben — wir sehen Plotwendungen lange vor dem Kommissar, und wir sind es heute gewohnt, in 20 Minuten eine Fülle an Handlung präsentiert zu bekommen, für die in den 60ern noch eine ganze Stunde Sendezeit draufgegangen wäre, und empfinden deswegen alte Krimiserien als langatmig.

SCHNELLER zu erzählen ist vergleichsweise leicht. ANDERS zu erzählen ist die Herausforderung. In den letzten zehn Jahren hat sich im seriellen Geschäft weltweit eine Tendenz abgezeichnet, auch dem Fernsehzuschauer Hauptcharaktere zu präsentieren, deren Wege nicht nur von schwarz nach weiß oder umgekehrt verlaufen, sondern deren Farbpalette viele Zwischentöne und Changierungen aufweist. Eine Buchverfilmung wie das „Lied von Eis und Feuer“ von George R. R. Martin wäre vor fünfzehn Jahren noch nicht möglich gewesen. Nicht, weil HBO das Budget nicht hätte aufbringen können, sondern weil mindestens ein Entscheider (nicht nur) an einem der Hauptcharaktere oder Handlungsstränge Anstoß genommen hätte. Tyrion Lannister, einer der Hauptfiguren, nicht nur kleinwüchsig, sondern auch Opportunist und Zyniker, der bei der ehrfurchtgebietenden Mauer aus Eis an nichts anderes denkt, als davon herunterzupinkeln? Sein Bruder Jaime stößt in der allerersten Episode den halbwüchsigen Bran Stark von einem Festungsturm, als dieser ihn beim Inzest erwischt, und soll nur wenige Episoden später als (zwiespältiger) Held für den Zuschauer dennoch goutierbar sein?

Ja, das geht, wie man an den Preisverleihungen und Einschaltquoten sieht. „Breaking Bad“ z.B. zeigt die Wandlung eines an Lungenkrebs erkrankten biederen Chemielehrers zu einem rücksichtslosen Kriminellen. Auch dieser erzählerische Mut wurde belohnt. Aber wie funktioniert das? Unter anderem, indem man keine Rücksicht nimmt, wenn es um das Erzählen einer guten Geschichte geht.

Aber das bedeutet, dass man auch Grenzen überschreiten muss — dorthin gehen, wo es weh tut. Die Grenze dessen, was der Zuschauer bereit ist, zu akzeptieren, hat sich verschoben. Aber in Deutschland noch nicht genug.

Wird das jetzt zu theoretisch?

Ich habe ein eigenes Beispiel aus der Praxis:

Fasziniert vom Gedanken, einen sympathischen Schurken zum Held einer Serie zu machen, schrieb ich zwischen 2013 und 2016 mehrere Entwürfe einer Serie rund um einen Polizeipsychologen, der zugleich zum Verbrecherkönig wie auch zum Volksheld wird. Wind unter die Flügel bekam die Idee, als ein Produzent mich mit einem Autor zusammenbrachte, der sich von der Idee anstecken ließ, dem Stoff einige neue radikale Ideen hinzufügte. Er schrieb mit mir das Pilotdrehbuch und den Entwurf für eine erste 10-Episoden-Staffel.

Leseprobe aus dem Pilotdrehbuch

Überzeugt davon, dass lauwarm langweilig sei, ließen wir in der ersten Staffel den Psychologen Markus Volkner sowohl gegen die eigenen Kollegen in der Berliner Polizei als auch gegen einen arabischen Verbrecherfamilienclan antreten, dessen Mitglieder unverbrämt frauenfeindlich, selbstbewusst und rassistisch waren — und die bei ihren Grenzüberschreitungen auf passive oder opportunistische Unterstützung der Politik zählen konnten.

Das war nicht nur einer Sender-Redaktionskonferenz zu heikel.

Es half auch nicht, dass wir die Eröffnungsszene der Pilotepisode mit einem Splattereffekt beendeten und am Schluß derselben den Helden einem 16jährigen Mädchen einen Finger mit einem Bolzenschneider abtrennen ließen. Sowas „geht nicht“. Und das Tableau, dass ein arabischer Familienclan eine Dominanz über Berlin aufbaut, war für die Redaktionskonferenz 2016 nicht nur „völlig unrealistisch“, sondern zudem „fremdenfeindlich“ und „angsteinflößend“. Selbst zwei Jahre später, als sich die Sicht schon geradezu als prophetisch erwiesen hat, sind solche Gedanken tabu. Es darf nicht an das Fernsehpublikum, was in der Gegenwart besser nicht existieren sollte.

Lesen Sie mal die ersten zehn Seiten der Pilotfolge.

Wo fühlen Sie sich nicht mehr wohl, und warum?

Hier kommt der o.g. Aspekt der „Ruhe als Bürgerpflicht“ ins Spiel. Es wäre z.B. ja zugegebenermaßen interessant, mal einen Anarchisten, Links- oder Rechtsradikalen als Helden einer einheimischen Serie zu haben. Wer weiß, vielleicht würde man ja etwas besser verstehen, wie die wirklich so ticken. Oder einen Berufsverbrecher. Insbesondere, wenn man von Stereotypen absieht und eben mit Schattierungen arbeitet. Warum gibt es sowas nicht? Weil Verantwortliche befürchten, dass es zu „Heroisierungen“ unter den Zuschauern kommen könnte, was angesichts der deutschen Vergangenheit eine grundsätzlich argwöhnisch zu beäugende Sache sei.

„[Es] wurde mir klar, dass es keine gute Idee ist, wenn Deutsche über ihre Identität nachdenken. Entweder langweilen sie sich und andere zu Tode oder die Sache endet in Stalingrad.“ (Wiglaf Droste, aus: „Späte Rache oder The Köln Concert“, Album „Wieso heißen plötzlich alle Oliver?“, 1996)

Ich erinnere mich noch gut an zwei Wutausbrüche des Produzenten Artur Brauner aus den 90ern — der erste davon bezog sich auf die Weigerung des deutschen Oscar-Auswahlgremiums, Agnieszka Hollands Film „Hitlerjunge Salomon“ zur Nominierung einzureichen, obwohl er schon den Golden Globe gewonnen hatte, und der zweite auf die Nachricht hin, die deutsche Filmförderung habe sein Projekt „Schindlers Liste“ als „zu kolportagenhaft“ abgelehnt, nur um zwei Jahre später den Welterfolg Steven Spielbergs zu feiern. Das sind (hier wieder im Film) weitere Symptome der gleichen Krankheit, die die Kreativität und Vielfalt lähmt. Im einen Fall durfte es nicht sein, dass ein jüdischer Junge in der Uniform des Feindes opportunistisch um sein Leben kämpft (statt edel den Opfergang anzutreten) und im anderen Fall, dass ein deutscher opportunistischer Fabrikant seine Empathie entdeckt — und es damit also „gute Deutsche“ gab, was bewies, was möglich gewesen wäre, gäbe es mehr Mut. Ach ja, Thema „gute Deutsche“: sprechen Sie mich bitte nicht auf die Zensur beim Zweiteiler „Laconia“ an.

Zurück zum Thema Serie: man müsste ja noch nicht einmal in diese problematischen Ecken gehen — es würde schon genügen,

  • im Krimi ab und zu den Halunken überzeugend  davonkommen zu lassen (passiert im wahren Leben ja auch oft genug);
  • Oder jemanden wirklich und nicht klischeehaft mit seiner Geschlechtsidentität ringen lassen, ohne dass man weiß, wie’s ausgeht;
  • Altern und Sterben zeigen, wie es ist und sein kann;
  • Selbstmord anders zu behandeln;
  • Tatsächlich einmal Religion zu thematisieren (statt nur auf den üblichen Topoi herumzureiten).

Die Serie „Mad Men“ erzählt etwas über Geschlechterungleichheit am ungeschminkten und nicht durch eine moralische Instanz in Frage gestellten Sexismus der 60er Jahre. „The Shield“ zeigte Polizeiarbeit im Drogenmilieu ansatzweise realistisch durch Erpressung und Misshandlungen durch Polizisten genau wie durch Verbrecher. Generell wären mehr echte Ambivalenzen nicht schlecht. Dann klappt’s auch wieder häufiger mit dem International Emmy.

Also: was kann ich empfehlen? Weiterhin und wie oben: je kontroverser Ihr Stoff ist, je mehr Mut er erfordert, desto wichtiger ist es, dass Sie die richtigen Menschen kennen, die Sie für den Stoff begeistern. Die sollten einen Namen in der Branche haben. Ohne das haben Sie keine Chance.

Ist meine Sicht zu zynisch? Ich würde mich freuen …

Wer teilt, hat mehr vom Netz!