Der Moment der Empathie (Illustration)

In dieser Blogartikelserie werde ich anhand von Filmerzählungsbeispielen untersuchen, wie nachhaltig Momente wirklicher Empathie zwischen handelnden Figuren die Filmqualität beeinflussen.

Theaterbesucher, die Bert Brechts „kaukasischen Kreidekreis“ kennen, erinnern sich an die salomonische Urteilsszene gegen Ende der Geschichte: der anarchische Richter Azdak lässt die Gouverneurin und die Magd Grusche das Kind, um das es in der Geschichte geht, an je einem Arm aus dem titelgebenden Kreidekreis ziehen. Während des dramatischen „Seilziehens“ lässt Grusche das Kind los, weil sie es nicht verletzen will und bekommt es ihrer Empathie wegen zugesprochen.

Dieser Höhepunkt hat seinen Ursprung in einer früheren Szene, in der die Gouverneurin, vor einer Revolution flüchtend, das Kind in der Obhut einer Bediensteten im Palast zurückgelassen hatte. Die nahenden Truppen lassen alle Palastbediensteten Hals über Kopf den Palast räumen, die naive Grusche folgt aber zunächst einem Befehl der Köchin, „nur kurz mal eben“ auf das Baby aufzupassen. Als die Köchin nicht wiederkommt, will auch Grusche gehen, doch dann geschieht etwas, das der Erzähler im Theater wie folgt kommentiert:

Als sie nun stand zwischen Tür und Tor, hörte sie
Oder vermeinte zu hören ein leises Rufen: das Kind
Rief ihr, wimmerte nicht, sondern rief ganz verständig
So jedenfalls war’s ihr. »Frau«, sagte es, »hilf mir.«
Und es fuhr fort, wimmerte nicht, sondern sprach ganz verständig:
»Wisse, Frau, wer einen Hilferuf nicht hört
Sondern vorbeigeht, verstörten Ohrs: nie mehr
Wird der hören den leisen Ruf des Liebsten noch
Im Morgengrauen die Amsel oder den wohligen
Seufzer der erschöpften Weinpflücker beim Angelus.«

Und Grusche kehrt um, setzt sich zum Kind und bleibt bei ihm, bis sie es nicht mehr aushält und den Kleinen trotz der Gefahr, verfolgt, gejagt und getötet zu werden, mitnimmt und „an Kindes Statt“ annimmt.

Und das tut sie, weil sie ihr Gehör nicht verlieren will? Wer baut eine solche erzählerische Logik auf? Brecht kann das ja nicht ernst gemeint haben: natürlich würde Grusche ihr Gehör nicht verlieren, auch nicht selektiv. Was ist es also, das in dieser Szene zu ihr spricht und sie tun lässt, was sie eigentlich nicht will?

Nein, es ist das Grusche unbewusste, aber innewohnende Wissen, dass die menschliche Seele Schaden nimmt, wenn der Mensch unmenschlich handelt. Aus der Spannung zwischen dem dem Menschen eigenen und selbsterhaltenden Egoismus und dem uneigennützigen Mit-Leiden mit Anderen entstehen offene Fragen, die ein Autor für sein Drama nutzen kann und sollte. Insbesondere dann, wenn er Wert darauf legt, sein Drama nicht nur aus dem Standard-Bausteinkasten zusammenzusetzen.

Die menschliche Qualität der Empathie lässt sich in der Definition des Psychologen Paul Bloom vom Mitgefühl so abgrenzen: „Mitgefühl bedeutet: Ich kümmere mich um den anderen, ich sorge für ihn. Empathie heißt: Ich fühle das, was ein anderer Mensch fühlt.“ Das Hauptgebot des christlichen Glaubens, das der Nächstenliebe, heißt korrekt übersetzt „Liebe Deinen Nächsten, denn er ist wie Du, er fühlt wie Du“ und hat somit im Kern eine empathische Forderung. In der Empathie bzw. im Erleben derselben durch die Linse dramatischer Charaktere liegt besonderes Identifikationspotenzial für das Publikum, das Ihren Filmstoff um eine besondere Ebene bereichern kann.

Bernd Lau, der 1992 verstorbene Hörspielregisseur des „Herr der Ringe“, fasste im Werkstattbericht zu diesem Mammutwerk seine Theorie für guten dramatischen Dialog zusammen, die ich hier ausschnittweise zitieren darf:

(C) 1991 SDR

Hören Sie sich das an … Darauf werde ich zurückkommen.

Im Wochenabstand untersuche ich Filmbeispiele zum Thema. Viel Vergnügen!


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