Marcel Marceau 1971

22. März — der morgendliche Besuch von Google und das entsprechende „Doodle“ hat mich daran erinnert, dass einer der größten und sicherlich der berühmteste Pantomime des 20. Jahrhunderts heute seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte.

Der offensichtliche Vorteil des Theaters ohne Worte ist die universelle Verständlichkeit ohne Sprachbarrieren. Die größere Herausforderung ist die Darstellung ohne Requisiten und ohne Anspielpartner. Die Anforderung an die Körperbeherrschung (im Video „sitzt“ Marceau durchgehend und hält die Position so, als müsste er NICHT sein Gewicht die ganze Zeit tragen) ist groß, muss aber mühelos wirken. Die meiste Arbeit hat ein Mime an den Stellen, wo man nichts sieht oder sehen soll. Die Aufmerksamkeit des Zuschauers liegt auf dem, was Hände, Gesicht oder Beine tun, wenn sie sich bewegen —  aber die Arbeit liegt zum Großteil im kunstvollen Verharren.

Woher ich das weiß?

Ich habe als Jugendlicher mehrere Jahre bei einem Schüler Marceaus Pantomime gelernt. Am Tag nach dem wöchentlichen Lehrgangsabend hatte ich regelmäßig massiven Muskelkater an Stellen, von denen ich nicht mal wusste, dass es da überhaupt Muskeln gab. Aber diese Muskeln erinnern sich noch heute … den Marsch gegen den Wind oder den Gang auf der Stelle z.B. kann ich nach wie vor vorführen.

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Marceau habe ich live fünf Mal erlebt, zuletzt 2005 in München. Der bereits 82jährige führte auch hier 90 Minuten durch sein Soloprogramm mit Stilpantomimen und Bip-Geschichten und bewies, dass seine Form des Geschichtenerzählens auch noch funktionierte, wenn die darin handelnden Archetypen nicht mehr existierten.

Den pensionierten Offizierstyp, der „Im Volksgarten“ mit würdiger Haltung den Schnurrbart zwirbelte, gibt es längst auch in Frankreich nicht mehr, genauso wenig wie den Priester, der lesend mit einer kleinen Bibel vor der Nase durch den Park schlenderte. Ebenso dahin ist der kleine Porzellanladen, in dem Bip auf eine himmelhohe Leiter steigen musste, um einem wählerischen Kunden das gewünschte Stück aus dem Regal zu holen. Der Beamte aus „Die Bürokraten“, der den ganzen Tag nichts anderes tut, als zu stempeln und zwischendurch einen Bittsteller zu schurigeln, ist der Verwaltungsreform zum Opfer gefallen. Nur die schnepfige Sekretärin gibt es noch, aber die Geste, mit der sie immer wieder den Wagen der Schreibmaschine nach rechts schob, ist auch schon ausgestorben.

(aus dem Nachruf von 2007 in „Die Welt“)

Vielleicht musste man das live erlebt haben, um vom Zauber eingefangen zu werden. Der Grund, weswegen Pantomime ein wenig in der Straßenkunst in Fußgängerzonen überlebt hat, ist der Wunsch, den man verspürt, das Wesen „anzufassen“, das diese Magie spielt, die zugleich sehr künstlich und zutiefst wahr ist. Im Video oben spricht Marceau davon, dass die Natur des Menschen in der Auseinandersetzung mit den Masken, die er erschafft, besonders deutlich wird — und damit zeigte er den Geschichtenerzählern von heute, dass Geschichten nicht nur Plot und Charaktere sind. Erinnernswert werden sie dann, wenn sie uns etwas über die Höhen und Tiefen des Menschseins mitgeben.

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